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27.01.2022 13:05 Alter: 2 yrs
Kategorie: Berufspolitik, Medizinrecht, Zahnheilkunde

Zahnärzte warnen vor Aligner-Start-ups

„Niemand hat sich je meinen Kiefer angesehen“


 

 

Viele Firmen versprechen, per Fernbehandlung Fehlstellungen der Zähne mit transparenten Zahnschienen zu korrigieren. Eine ärztliche Betreuung bleibt meistens aus, die Patienten müssen Fortschritte selbst dokumentieren. Das hat teils gravierende Folgen, wie eine Betroffene erzählt.

 

Von Jörg Isringhaus (Rheinische Post / RP am 26. Januar 2022)

 

Ein schönes Lächeln – das war alles, was sich Heike Weber (Name geändert) gewünscht hatte. So lautet auch der Werbeslogan des Unternehmens, auf dessen Angebot die 24-Jährige aus dem Rheinland eingegangen ist. Die Firma verspricht wie derzeit viele andere auch, mit einer sogenannten Aligner-Therapie Zahnfehlstellungen zu beheben. Aligner sind transparente Kunststoffschienen, die auf die Zähne geschoben werden - in diesem Fall aber nicht von einem Arzt, sondern vom Patienten selbst. Das Lächeln ist Heike Weber dann auch bald vergangen. Nach sechs Monaten Fernbehandlung, großen Schmerzen, einer zeitweiligen neuen Zahnlücke und viel Kommunikationschaos hat sie die Therapie abgebrochen. Nun will sie das Unternehmen verklagen. Weber: „Solche Firmen dürfen und sollen damit kein Geld verdienen.“

 

Grundsätzlich ist das Verfahren, mit Zahnschienen den Kiefer umzuformen, für darin Erfahrene gängige Praxis und ein Instrumentarium von vielen, das in geeigneten Fällen angewendet werden kann, erklärt der Pulheimer Kieferorthopäde Karl Reck. Vorausgesetzt, ein Arzt begleitet den Prozess von Anfang an. „Dazu gehört eine ordentliche Befundung vor der Behandlung und eine permanente medizinische Begleitung“, sagt Reck. Genau die bleibt bei den Angeboten der Start-ups aber in der Regel aus. In Heike Webers Fall war zwar ein mit dem Unternehmen kooperierender Zahnarzt involviert, dieser fertigte aber nur Bilder an und griff nicht ein, als die Therapie offenkundig aus dem Ruder lief. Nicht nur aus Webers Sicht ein Unding. „So ein Verhalten ist zutiefst unmoralisch und mit dem zahnärztlichen Berufsethos nicht vereinbar“, kritisiert Reck.

 

Den Ausschlag, überhaupt auf die Aligner-Offerte einzugehen, gab für Weber zum einen der verglichen mit einer Behandlung beim Kieferorthopäden deutlich günstigere Preis sowie das geschickte Marketing. Aligner-Start-ups werben in sozialen Medien und Castingshows, oft auch mit prominenten Gesichtern, bieten immer wieder Sonderrabatte. Auch Weber konnte sich dem nicht entziehen und bekam nach ihrer Zusage und der Aufnahme beim Zahnarzt 16 Schienen zugeschickt. Diese sollten nun in einer bestimmten Reihenfolge jeweils ein bis zwei Wochen 22 Stunden pro Tag getragen werden. „Die ersten Schienen schmerzten unfassbar“, erzählt Weber. Aber sie dachte, das sei unvermeidlich. Ihren Fortschritt musste sie selbst dokumentieren – per Handy-Selfie, die Fotos schickte sie per Mail an die Firma. Nach einigen Wochen bemerkte Weber eine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen und reklamierte den Verlauf. „Von da an lief es nur noch schief“, sagt sie.

 

Für Kieferorthopäde Reck ist so eine Erfahrung, wie sie Heike Weber durchleben musste, nur schwer zu ertragen. Und das aus vielerlei Gründen. So sei schon das angebotene Produkt unvollständig, weil zu den Schienen auch ein Druckknopfsystem gehöre, um die Beweglichkeit der Zähne zu erhalten und Schäden im Kiefer zu vermeiden. Außerdem müsse ein Arzt das gesamte Kausystem des Patienten im Auge behalten, um die Entwicklung einzuschätzen. „Das setzt langjährige Erfahrung voraus“, sagt Reck. „Ohne ärztliche Approbation ist so eine Behandlung nicht vertretbar.“ Bei der Zahnärztekammer landen dann oft die Patienten, die an den Folgen fehlgeschlagener Eingriffe laborieren – dazu zählen Zahnlücken, verlorene Zähne und Kieferfehlstellungen. Um Schäden zu korrigieren, sind oft Nachbehandlungen bei Kieferorthopäden notwendig mit Folgekosten bis zu 10.000 Euro.

 

Für Heike Weber war Schluss, nachdem sie es auf ihrem Weg, die entstandene Zahnlücke zu korrigieren, immer wieder mit neuen Ansprechpartnern zu tun hatte und niemand wusste, was am Vortag besprochen worden war. Als es hieß, sie solle noch einmal mit den alten Schienen beginnen, brach sie ab. „Niemand hat je meinen Kiefer begutachtet“, sagt sie. Zwar hat sie keine bleibenden Schäden davongetragen, aber wegen der unzumutbaren Art der Behandlung und den Fehlern, die nachweislich begangen wurden, will sie vor Gericht gehen.

 

Auch Kieferorthopäde Reck und die Zahnärztekammer Nordrhein sehen grundsätzlich Handlungsbedarf, was dubiose Aligner-Angebote angeht. „Diese Schienen sind ein Medikament, ein medizinisches Hilfsmittel“, sagt Reck, „und es ist Aufgabe des Arztes, dies anzuwenden.“ Bei unsachgemäßem Gebrauch drohten neben akuten Problemen unwägbare Spätschäden. Die Kammer hat mittlerweile die Staatsanwaltschaft einbezogen, um auch gegen die Kooperationszahnärzte der Unternehmen vorzugehen. Reck und die Zahnärztekammer sehen zudem den Gesetzgeber in der Pflicht, entsprechende Vorgaben zu erlassen, um Berufsfremden zu verbieten, zahnärztliche Leistungen anzubieten. Reck: „Es gibt nicht ohne Grund ein Zahnheilkunde-Gesetz.“ Quelle: RP am 26. Januar 2022