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17.04.2020 11:10 Alter: 4 yrs
Kategorie: Berufspolitik, Gesundheitspolitik, Praxismanagement, Zahnheilkunde

Brief des DGZMK-Präsidenten Professor Frankenberger

„Es gibt für diese Krise kein Handbuch“


 

 

Liebe Mitglieder der DGZMK, meine lieben Kolleginnen und Kollegen,

 

es geht uns in diesen Tagen allen ähnlich: Wir reiben uns ungläubig die Augen und verstehen die Welt nicht mehr in Anbetracht der Umstände, die uns ein ca. 150 Nanometer großes Virus innerhalb weniger Wochen beschert hat. Die Restriktionen unseres täglichen Lebens haben ein bislang nie gekanntes Ausmaß angenommen und niemand kann im Moment eine sichere Zeitschiene vorhersagen, wie und wann sich das wieder in Richtung Normalität bewegt. Daher sind auch "Stand heute" oder "im Moment" sehr häufig gebrauchte Begriffe geworden, welche in allen Belangen vor allem eines bedeuten: Es gibt für diese Krise kein Handbuch. Hinzu kommt eine schier unglaubliche Dynamik der Trends und Ereignisse, manche Fakten sind innerhalb einer Woche schon wieder obsolet. Genau hier ist auch die primäre Schwierigkeit der wissenschaftlichen Zahnmedizin verortet, und die vertritt die DGZMK als Dachorganisation aller wissenschaftlichen Fachgesellschaften im trilateralen Miteinander mit BZÄK und KZBV. Die DGZMK orientiert sich an der Wissenschaft, kümmert sich neben dem wissenschaftlichen Nachwuchs um Leitlinien und Evidenz und vertritt diese im zahnmedizinischen Kontext, ohne die Fachgesellschaften zu bevormunden. Der Vorstand der DGZMK beobachtet aber auch, dass die Zahnärzte in diesen Tagen von massiven Sorgen gesundheitlicher und wirtschaftlicher Natur heimgesucht werden1, komplettiert durch die Verunsicherung der Patienten, die durch tägliche Meldungen in Presse und Fernsehen nicht reduziert wird - im Gegenteil.

 

Seit Beginn der Pandemie befinden wir uns daher in unserem Vorstand auf der einen und den Fachgesellschaften auf der anderen Seite in fast täglichem Austausch, was wir unseren Mitgliedern in dieser epochalen Corona-Krise anbieten können. Auch wenn die Datenlage im Kontext "Zahnmedizin und Covid-19" aufgrund der Aktualität noch nicht ausreichend sein kann, ist trotzdem bereits überraschend viel publiziert worden. Zum einen sei auf die ausführlichen Vorlagen von KZBV und IDZ verwiesen sowie weitere Handlungsempfehlungen der Bundeszahnärztekammer, die bereits eine hervorragende Grundlage für jeden Zahnarzt darstellen. Zum anderen hat sich auch der Arbeitskreis Ethik in der DGZMK bereits positioniert. Es ist mir ein besonderes Anliegen, darauf hinzuweisen, da die Berufsethik in dieser Krise von unschätzbarem Wert für uns ist.

 

Wie sehen nun konkrete Empfehlungen aus, wenn man versucht, diese auf valide wissenschaftliche Fakten zu stützen? Zunächst und vorab: In unserer Universitätszahnklinik wurde seit 16. März 2020 auf reinen Not-/Schmerzbetrieb umgestellt. Dies war jedoch in erster Linie der Tatsache geschuldet, dass unser Klinikum den Routinebetrieb aller Kliniken reduzierte, um der zu erwartenden Verknappung von Schutzausrüstung effektiv zu begegnen. Als dann wenige Tage später bundesweit die Ausgangsbeschränkung beschlossen wurde, schien dieses Konzept in Anbetracht aller Fakten zu diesem Zeitpunkt vernünftig zu sein, unzählige Terminabsagen von verunsicherten Patienten betätigten dieses Vorgehen. Staatsexamina wurden an das Phantom verlegt oder ganz verschoben, der erste Teil des Sommersemesters findet in der ganzen Bundesrepublik zunächst rein virtuell statt, wann ein geregelter Unterricht am Patienten beginnen kann, ist völlig offen und stellt uns in der Universitätszahnmedizin vor große Herausforderungen. Auch der ursprünglich geplante Einstieg in die neue Approbationsordnung wird wohl um ein Jahr verschoben werden müssen. Eine wissenschaftsgeleitete Zahnmedizin muss sich vor dem Hintergrund der aktuellen Krise die fundamentale Frage stellen: Wenn nun fast alle zahnärztlichen Maßnahmen beliebig verschiebbar erscheinen, wo ordnet sich dann der medizinische Wert unseres Tuns ein, bzw. wo ist die sogenannte "Systemrelevanz" der Zahnmedizin? Als im ersten Notstandsgesetz der Bundesregierung dann auch prompt die Zahnmedizin nicht erwähnt wurde, war ebendiese Frage extrem akut. Die Antwort ist: Wenn wir eine medizinische Disziplin sind, dürfen wir uns in dieser Krise nicht wegducken. Wir müssen für unsere Patienten da sein und mit Vernunft, Augenmaß sowie gesundem Menschenverstand agieren. Die Abbildung veranschaulicht das Dilemma einmal visuell:

 

Der beschriebene "gesunde Menschenverstand" ist z.B. auch eine wichtige Grundlage des Thesenpapiers der Leopoldina, welches von führenden Wissenschaftlern unseres Landes verfasst wurde. Der "gesunde Menschenverstand" stützt sich natürlich auf die verfügbaren Fakten (Abb. 1), wird aber ebenso auch massiv von Verunsicherung (Eigengefährdung vs. finanzieller Schaden vs. Mitarbeiterschutz, Abb. 1) beeinflusst. Aus dieser Gemengelage Empfehlungen zu erarbeiten, birgt zum einen Limitationen wie z.B. Knappheit bei Schutzausrüstung und zum anderen Chancen, zuvorderst die oben beschriebene medizinische Relevanz unseres Tuns zu unterstreichen (Abb. 1). Gerade aber bei den Fakten muss man sich – Stand heute – durch die limitierte Verfügbarkeit ebenfalls über Grenzen im Klaren sein. Ebenso dürfen bereits vor der Covid-19-Pandemie bekannte Fakten nicht außer Acht gelassen werden.

 

Bevor wir zu komprimierten Empfehlungen angesichts der omnipräsenten Krise kommen, gestatten Sie mir eine Vorbemerkung. Sowohl das Hauptaugenmerk in der Wissenschaft als auch in der öffentlichen Berichterstattung fokussiert fast ausschließlich auf Bekämpfung und Eindämmung des SARS-CoV-2-Virus auf der einen als auch Impfstoff- und Medikamentenentwicklung auf der anderen Seite. Das ist wichtig und nachvollziehbar. Ein Aspekt, in dem die Zahnmedizin in unserem Land traditionell hervorragend aufgestellt ist, kommt jedoch zu kurz: Die Prävention. Eine Frage, die in naher Zukunft intensiv bearbeitet werden sollte, ist neben dem Aspekt der Schutzausrüstung auch die Optimierung des eigenen Immunsystems. So ist z.B. die Rolle von Vitamin D im Zusammenhang mit dem Immunsystem bekannt, und trotzdem sind bis zu 90% der Deutschen damit unterversorgt. Ähnliches gilt für Vitamin C. Gerade in diesem Zusammenhang ist eine gute Mundhygiene bzw. eine gesunde Mundhöhle in Zeiten von Covid-19 noch wichtiger als sie vorher ohnehin schon war. Eine gesunde Mundhöhle ist immer eine bessere Immunbarriere als eine kranke Mundhöhle. Zentrale Aspekte unserer mit den Fachgesellschaften abgestimmten Empfehlungen, auch auf Grundlage bisheriger Empfehlungen seitens BZÄK und KZBV sind:

 

1. Als Beitrag zur Eindämmung der durch Covid-19 ausgelösten Pandemie sollten Patienten anhand einer Covid-19-Anamnese vor Behandlungsbeginn in asymptomatische Patienten und in Patienten mit Covid-19-Symptomen bzw. mit bestätigter Infektion separiert werden.

 

2. Die Behandlung symptomatischer/infizierter Patienten sollte sich auf Schmerzbehandlung reduzieren (Entzündung, Trauma, Tumor) und sollte nur in Einrichtungen/Praxen durchgeführt werden, in denen Schutzausrüstungen für die Behandlung infizierter Patienten vorhanden sind. Die Bereitstellung geeigneter Schutzausrüstung bzw. die Etablierung entsprechend ausgerüsteter Einrichtungen/Praxen hat staatlicherseits zu erfolgen.

 

3. Bei Patientinnen und Patienten, die zu Risikogruppen21 zählen, sollten die Behandlungsindikation vor allem bei elektiven Eingriffen besonders streng geprüft werden. Notfallbehandlungen sollten unter Berücksichtigung der besonderen Umstände weiterhin durchgeführt werden. Als allgemeine Notfälle sollten dentale Infektionen, Abszesse, Blutungen, Unfälle oder Traumata und nicht zu tolerierende Schmerzen, z.B. als Folge einer Pulpitis behandelt werden.

 

4. Patienten ohne nachgewiesene Infektion oder Verdacht darauf können unter Beachtung bestehender Hygienevorschriften behandelt werden, insbesondere Behandlungen ohne Aerosolbildung (z.B. Kieferorthopädie, Parodontologie, Prophylaxe, herausnehmbare Prothetik, Chirurgie, Funktionstherapie) können problemlos durchgeführt werden.

 

5. Als Experten des Mund-Rachen-Raums sind sich ZahnärztInnen schon immer der Bedeutung des Aerosols als Übertragungsmedium ansteckender Krankheiten bewusst und dafür hoch sensibilisiert. Bis zur endgültigen wissenschaftlichen Klärung der Rolle zahnärztlichen Aerosols (im Gegensatz zur Tröpfcheninfektion) bei der Übertragung von Covid-19, sollten zusätzliche Maßnahmen getroffen werden, um Entstehung, Ausbreitung und Verbreitung von Aerosol einzudämmen. Zusätzlich sollten räumliche, zeitliche und ablauftechnische Maßnahmen entsprechend der lokalen Gegebenheiten einer Einrichtung/Praxis eingeleitet werden, um die vom Robert-Koch-Institut geforderte Abstandhaltung möglichst effektiv umzusetzen.

 

6. Zahnärztinnen und Zahnärzte haben als Arbeitgeber ihren Angestellten gegenüber eine Fürsorgepflicht. Angesichts der Pandemie von Covid-19 können daher praxisbedingt besondere Maßnahmen notwendig werden, um den bestmöglichen Schutz für Patient, Personal und Behandler zu gewährleisten.

 

7. Im Bereich der Zahnerhaltung (Kariologie, Endodontie, Parodontologie, Kinderzahnmedizin) sollte zur Eindämmung/Vermeidung von Aerosolen der Einsatz von Turbinen, Pulverstrahlgeräten und Ultraschallscalern aus Sicherheitsgründen vermieden werden. Der Einsatz von Kofferdam ist generell da empfehlenswert, wo er möglich ist.

 

8. Begonnene Behandlungen mit festsitzendem oder herausnehmbarem Zahnersatz sollten abgeschlossen werden. Der Beginn neuer Behandlungen, sollte unter Berücksichtigung der oben genannten Empfehlungen individuell abgewogen werden. Es ist im Einzelfall kritisch zu prüfen, ob der Behandlungsbeginn z.B. bei ausgedehnter Teleskopprothetik verschoben werden kann, insbesondere vor dem Hintergrund, dass bei Erkrankung von Patienten eine lange Zeit mit Provisorien überbrückt werden müsste.

 

9. Im Bereich der zahnärztlichen Chirurgie / MKG-Chirurgie ist der Schwerpunkt der aktuellen Maßnahmen in den Bereichen Tumor/Trauma/Notfall zu sehen. Implantologische Empfehlungen wurden bereits publiziert.

 

10. Die DGZMK unterstützt ausdrücklich die staatlicherseits eingeleiteten Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie, unterstreicht die Gemeinwohlverpflichtung der ZahnärztInnen und definiert die Zahnmedizin per se als uneingeschränkt systemrelevant. Die bevorstehende Etablierung eines Rettungsschirms für Zahnärzte wird begrüßt. Wir danken unseren Partnern von BZÄK und KZBV für die politische Vertretung der Interessen der ZahnärztInnen und stehen für trilaterale Aktionen jederzeit bereit, um der Zahnmedizin im Ganzen auch politisch Nachdruck zu verleihen.

 

Natürlich sind unsere einzelnen Fachgesellschaften frei in der Entscheidung, ob sie über diese "Kurzliste" hinausgehende Details veröffentlichen wollen. Dieses Papier ist ohnehin eine Momentaufnahme in einer staatlichen Krise und hat daher weder einen Anspruch auf Vollständigkeit noch auf dauerhafte Gültigkeit, es ist vielmehr "Work in Progress", also auch jederzeit aktualisierbar. Eine S1-Leitlinie der DGZMK zum Thema „Umgang mit zahnmedizinischen Patienten bei Belastung mit Aerosol-übertragbaren Erregern“ ist bei der AWMF angemeldet. Als Vorstand der DGZMK sind wir es unseren Mitgliedern schuldig, uns wissenschaftlich wie ethisch zu positionieren - ich bedanke mich daher herzlich für die aufmerksame Lektüre. Bleiben Sie gesund bis es einen Impfstoff gibt oder werden Sie schnell immun - ich weiß nicht, was der bessere Wunsch ist, suchen Sie sich gerne einen aus.

 

Alles Gute, Ihr Roland Frankenberger, Präsident der DGZMK, stellvertretend für den geschäftsführenden Vorstand;

 

Marburg, den 16. April 2020